Der Gesang der Bienen by Ralf H. Dorweiler

Der Gesang der Bienen by Ralf H. Dorweiler

Autor:Ralf H. Dorweiler [Dorweiler, Ralf H.]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman, Historisch
Herausgeber: Bastei Lübbe
veröffentlicht: 2019-01-23T23:00:00+00:00


KAPITEL 15

8. Mai 1152, noch 9 Tage bis zur Vollstreckung des Urteils

»Von den guten Werken wird die Seele wie von einem Königsmantel umhüllt, von den schlechten aber verdunkelt, wie auch die Erde von Wassern durchströmt wird.«

Hildegard von Bingen

Anna hatte es schon immer geliebt, mit ihrem Vater bei den Bienen zu sein. Die Düfte und Geräusche des Waldes gaben ihr ein Gefühl tiefer Zufriedenheit. Der Wald sorgte für die Zeidlerfamilie. Er bot Schutz und Nahrung, und immer wieder fand sich eine Leckerei, die man naschen konnte. Am liebsten war ihr natürlich frischer Honig direkt aus der Wabe, den die Bienen allerdings nicht ohne Gegenwehr hergaben. Wann sie zum ersten Mal von einer Biene gestochen worden war, daran konnte Anna sich nicht erinnern. Sie wusste nur, dass es über die Jahre viele Stiche gewesen waren. Das Gift im Stachel verursachte einen schnellen, heftig pochenden Schmerz. Die betroffene Stelle wurde sofort heiß, und die Nackenhärchen stellten sich auf. Anna empfand stets auch Mitleid, wenn sie gestochen wurde, gab doch die Biene, anders als die Wespe, mit dem Stich ihren Stachel – und damit ihr Leben.

Vor ihr auf dem Boden kniete mit schmerzverzerrtem Gesicht der Ritter Theobald von Molsheim. Sie hielt ihn mit seinem eigenen Schwert auf Abstand, das sie mit beiden Händen führen musste. Wo die scharfe Spitze seinen Oberkörper berührte, breitete sich auf seiner Kleidung ein langsam wachsender Blutfleck aus. Der Ritter war angeschlagen, aber nicht besiegt. Das erkannte sie an seinem Blick, der eine Mischung aus Ungläubigkeit, Feindseligkeit und stechendem Schmerz widerspiegelte.

Anna musste sich nur gegen den Knauf lehnen, und das Schwert würde in Theobalds Brust dringen, wie ein Bienenstachel in zarte Haut. Doch während die Biene beim Stechen ihr Leben ließ, würde in diesem Fall der Gestochene getötet.

»Sei’s drum«, sagte sie leise. »Ich werde das Dreckschwein abstechen!«

»Dann mach es doch!«, stöhnte Theobald. Er hatte Tränen in den Augen vor Schmerzen.

Anna biss die Zähne zusammen und spannte die Arme noch mehr an. Jetzt würde sie zustechen!

Sie konnte es nicht.

Anna drehte sich weg und schleuderte das Schwert in den Raum. Es schlitterte klirrend über den Boden und blieb neben dem Bett liegen. Voller Wut über sich selbst trat sie dem Ritter gegen die Brust, so fest, dass ihr Fuß schmerzte. Theobald kippte von der Wucht nach hinten um und stieß mit dem Kopf gegen eines der Tischbeine. Er stöhnte schmerzerfüllt auf und hielt sich weiter sein Gemächt.

Ohne weiter nachzudenken, nahm Anna den Weinkrug vom Tisch. Sie hob ihn hoch über den Kopf und zerschmetterte das dicke Tongefäß mit ganzer Kraft auf Theobalds Schädel. Der schwere Krug zerbrach in große Stücke. Theobalds Zuckungen endeten sofort. Roter Wein lief ihm über den Kopf. Sein Körper lag da wie leblos. Hatte Anna mit dem Krug unbeabsichtigt das getan, was sie mit dem Schwert nicht fertiggebracht hatte?

Sie hielt dem Ritter eine Hand vor den offen stehenden Mund. Als sie seinen Atem spürte, zog sie die Hand erschrocken zurück.

Ihr war bewusst, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Denn sobald Theobald sie in die Hände bekommen würde, war ihr ein grauenhaftes Schicksal sicher.



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